Sie küssten und sie schlugen ihn (1959)

20. Oktober 2016 | Filmkritik | Michael Brandtner

Das Kino zu revolutionieren: Das war das Anliegen vieler junger Filmemacher Ende der 50er Jahre in Europa. Vieles, das damals neu und ungewöhnlich war, ist heute ein alltäglicher Teil der Filmlandschaft geworden. Dennoch sind die bahnbrechenden Werke dieser Zeit auch ein halbes Jahrhundert später noch einen Blick wert – So zum Beispiel der Debütfilm des französischen Regisseurs François Truffaut, der heute vor 57 Jahren in die deutschen Kinos kam.

Kritiker seien „geistesgestörte Idioten“ und „weniger als wertlos“. Nicht jeder Regisseur würde es so extrem ausdrücken wie Alex Proyas (Gods of Egypt, 2016), aber das Verhältnis zwischen Filmemachern und Filmkritikern ist heutzutage im Allgemeinen wohl eher als distanziert zu bezeichnen. Doch die Grenzen zwischen den beiden Berufsgruppen waren nicht immer so klar gezogen. So begannen in den 50er und 60er Jahren zahlreiche Kritiker der französischen Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma selbst zur Kamera zu greifen. Ihr Ziel war ein Kino, dass sich von den angestaubten Konventionen der Studio-Ära lösen und neue Wege gehen sollte. In den so entstandenen Werken agierten unbekannte Schauspieler spontan und authentisch vor der Kamera, einem oft nur grob skizzierten Drehbuch folgend. Die Drehorte wurden vom Studio nach draußen verlegt und die Schnitttechnik befreite sich von den Zwängen des Continuity-Systems.

Einer der frühsten Filme dieser Bewegung ist Sie küssten und sie schlugen ihn von François Truffaut. Er erzählt die Geschichte des 14-jährigen Antoine (Jean-Pierre Léaud), der mitten in Paris aufwächst. Während er sich in der Schule mit der herablassenden Verhalten seiner Lehrer auseinander setzen muss, ist der Junge zu Hause mit einer nur wenig liebevollen Mutter (Claire Maurier) und einem sich oft unangemessen benehmenden Stiefvater (Albert Rémy) konfrontiert. Bald beginnt der Teenager, immer stärker gegen die Regeln der Gesellschaft zu rebellieren. Anfängliches Schulschwänzen wird bald begleitet von Alkohol- und Zigarettenkonsum und nächtlichem Fernbleiben aus seinem Elternhaus. Antoine genießt die neuen Freiheiten, die das Leben abseits pädagogischer Interventionen bietet. Doch als er zusammen mit seinem Freund René (Patrick Auffay) eine Schreibmaschine aus der Firma seines Stiefvaters klaut, hat dies schließlich ernsthafte Konsequenzen …

François Truffaut
François Truffaut (1967)
Die von Truffaut in ruhigen, fast dokumentarisch wirkenden Bildern erzählte Geschichte folgt keiner klassischen Hollywood-Dramaturgie und verlangt dem Publikum deshalb schon eine gewisse Geduld ab. Wer diese mitbringt, wird jedoch mit einem lange nachwirkenden Film belohnt, der das Bild einer Gesellschaft entwirft, in der man als Jugendlicher fast gar nicht anders kann, als delinquent zu werden. Denn das Verhalten der Erwachsenen gegenüber Antoine ist immer autoritär und herablassend, egal, wie der 14-Jährige sich verhält: Als der Jugendliche beginnt, Balzac zu lesen und sich beim Verfassen eines Aufsatzes von dessen Stil beeinflussen lässt, wird sein literarisches Interesse nicht belohnt, sondern er sieht sich mit dem Vorwurf konfrontiert, abgeschrieben zu haben. Dass es für Antoine keine Möglichkeit gegeben hätte, unbemerkt während einer Klassenarbeit einen Roman auf den Tisch zu legen, ist dabei nicht von Belang. Ein weiteres Beispiel ist der Diebstahl der Schreibmaschine: Antoine wird nicht etwa erwischt, als er diese stiehlt, sondern als er sie an ihren Platz zurückbringt und damit eigentlich Reue bewiesen hat. Für die folgende Bestrafung scheint dies jedoch unerheblich zu sein.

Einen Großteil seiner Wirkung verdankt der Film dem hervorragenden Hauptdarsteller Jean-Pierre Léaud. Dies wird vor allem in einer späten Szene deutlich, in der eine Psychologin den Jungen zu seinem Elternhaus und den Motiven seiner Handlungen befragt. Die glaubwürdige, kindlich-naive Art, wie Léaud die Fragen beantwortet, zeugt sowohl von einem großen schauspielerischen Talent als auch von einem großartigen Regisseur, der weiß, wann Improvisation zu besseren Ergebnissen führt als ein genau vorformuliertes Drehbuch. Und so ist ein fast magischer Moment entstanden, der für sich alleine genommen schon ausreicht, um diesen Film sehenswert zu machen.

Fazit:

Sie küssten und sie schlugen ihn kann man eine gewisse Langatmigkeit vorwerfen. Doch die schonungslose Art und Weise, wie Truffaut die verlogene Welt der Erwachsenen aus Sicht seines Protagonisten bloßstellt und die großartige schauspielerische Leistung von Jean-Pierre Léaud machen diesen Klassiker des französischen Kinos zu einem Film, den man gesehen haben sollte.


Urheber des Fotos von den François Truffaut ist Kroon, Ron / Anefo. Es stammt aus dem niederländischen Nationaal Archief und steht unter der Creative-Commons Lizenz Namensnennung 4.0 International (CC BY 4.0).